Ἁρμόζω: Skizze zu einer Lösung eines Problems der griechischen Wortbildung und Lautgeschichte
von George Hinge
1. Das Ionisch-Attische hat für den silbischen Nasal *m̥, *n̥ in der Regel das Ergebnis α, z.B. *gwm̥tós > ἄβατος „unbetreten, unbetretbar“, *dk̂m̥tóm > ἑκατόν „hundert“. Im Zahlwort *du̯ih1-dk̂m̥tih1 „zwanzig“ haben wir aber εἴκοσι gegenüber dorisch Ϝίκατι. Man hat dieses ο als eine Anlehnung an die anderen Zehner erklärt: τριάκοντα, τεσσεράκοντα, πεντήκοντα usw., in denen ο gemeinindogermanisch sein soll: < *ºdk̂omth2. Im Mykenischen, im Arkadischen und im Lesbisch-äolischen begegnet uns für silbisches *m̥, *n̥ neben α öfter ο. Es mag sein, dass die Qualität des Vokals am Anfang zweideutig war, und dass er eventuell durch Nasalierung begleitet wurde. Im Französischen wird der Nasalvokal eben geschlossener und o-ähnlicher ausgesprochen: chance ['ʃɑ̃:s] und chasse ['ʃas].
Wie dem auch sei, die Schwankung, die in der Linear B noch nicht gelöst war, wurde in den klassischen Dialekten in den einzelnen Wörtern zugunsten des einen oder des anderen Vokalismus aufgegeben. Das Ionisch-Attische wählt, wie gesagt, in der Regel α. In einigen Formen begegnet uns aber nichtsdestoweniger ein offenbar unregelmäßiges ο, so in εἴκοσι „zwanzig“, in den Hunderten auf ºκόσιοι und im Verb ἁρμόζω „zusammenfügen; passen“. Da letztgenanntes Verb wahrscheinlich zum Appellativ ἅρμα „Wagen“ gehört, das im Mykenischen eben in der Form a-mo belegt worden ist, haben einige darin eine Entlehnung aus dem Mykenischen sehen wollen[1]. Es leuchtet jedoch nicht ein, auf welche Weise eine derartige Entlehnung stattgefunden haben soll.
Vielleicht soll man vielmehr eine phonetische Erklärung suchen: Allen Wörtern ist auf jeden Fall gemeinsam, dass der problematische Vokal in klassischer Zeit vor einem Sibilanten steht. Die überlieferten Formen des Ionisch-Attischen und Dorischen lassen sich also mühelos mit folgender Lautentwicklung erklären[2]:
- *n, *m > an / _V
- *n, *m > a / C_C
- *n, *m > o / C_s [3]
Es entspricht dem vorgeschlagenen Lautgesetz, dass wir im Ionisch-Attischen εἴκοσι, διακόσιοι und im Dorischen ϝίκατι, διακάτιοι finden (weil das t dort stehen geblieben ist), während beide Dialektgruppen ἁρμόζω aufweisen[4].
2. Im klassischen Griechisch werden zu den Neutra auf -μα gewöhnlich Verben auf -αίνω gebildet, z.B. σημαίνω (: σῆμα) „bezeichnen, Zeichen geben“, πημαίνω (: πῆμα) „leiden“[5]. Es gibt jedoch seit den ältesten Texten zwei prominente Beispiele mit dem Suffix -άζω: ὀνομάζω „nennen“ und θαυμάζω „wundern“[6]. Sie werden in der Regel als gewöhnliche d-Stämme konjugiert: Aor. ὠνόμασα, ἐθαύμασα, Pass. ὠνομάσθην, ἐθαυμάσθην, Perf. ὠνόμακα, τεθαύμακα, Adj. ὀνομαστός, θαυμαστός. Wir haben mit anderen Worten dieselbe Flexion wie im Falle von ἁρμόζω, aber mit dem üblichen Lautübergang *n̥ > a. Eine Erklärung könnte sein, dass ἁρμόζω von seinem Ausgangspunkt semantisch losgerissen ist, während in ὀνομάζω, θαυμάζω die Grundbedeutung von ὄνομα, θαῦμα noch beibehalten wird.
Es treten jedoch Relikte einer älteren Flexion ohne stammauslautenden Dental auf: ὀνόμαινε [H.Aphr. 290], ὀνυμαίνω [kretisch IC 2.v.7.3, 4.51.4, 4.75C.7-8], Aorist ὀνόμηνε, -ω, -ας [Hom. 15x]; θαυμαίνω [H.Herm. 407, H.Aphr. 84, Anakr. Fr. 501.11], Futurum θαυμανέοντες [Od. 8.108][7]. Die meisten Verben auf -άζω sind von nominalen a-Stämmen hergeleitet: ἀτιμάζω (: τιμή) „nicht schätzen“, βιάζω (: βίη) „Gewalt anwenden, zwingen“, δικάζω (: δίκη) „Recht sprechen; entscheiden“, εὐνάζω (: εὐνή) „betten“. Es ist eine expansive Gruppe, die offenbar auch ὀνομάζω und θαυμάζω aufnahm. Die älteren Formen bezeugen auf jeden Fall, dass wir keine parallele Behandlung von diesen Verben und von ἁρμόζω erwarten dürfen.
3. Ich will die These vorschlagen, dass ἁρμόζω nicht direkt von ἅρμα- es hätte ja zum Ergebnis †ἁρμαίνω geführt - sondern vom denominativen Adjektiv ἀνάρμοστος „unpassend, ungeschickt“ abgeleitet worden ist. Es ist in der klassischen Literatur zwar erst bei Herodot (3.80.5) und Aristophanes (Nub. 908) belegt. Im Mykenischen gibt es aber entsprechendes a-na-mo-to [KN 273], a-na-mo-ta [KN Sf 4465] = /anarmost-/.
Das Simplex a-mo wird auf den mykenischen Täfelchen im Sinne von „Rad“ angewendet. Da der Gegensatz, das Perfekt Partizip a-ra-ro-mo-te-me-na [Sd0402, Sd0403, Sd0404, Sd0409, Sd0413], a-ra-ro-mo-to-me-na [Sd0416], a-ro-mo-te-me-na [Sd0422], a-ra-ro-mo-te-me-no [Sd0401] = /ararmotmen-/, allerdings in Verbindung mit dem Ideogramm „Wagen ohne Räder“ auftritt, muss er einfach „ausgerüstet“ heißen und /anarmostos/ einfach „unausgerüstet“ (d.h. „mit / ohne Jochstange“)[8]. Das Denominativum ist also zu einer Zeit gebildet worden, als ἅρμα noch nicht die spezialisierte Bedeutung „Rad“ (geschweige denn „Wagen“), sondern die allgemeine Bedeutung „Zusammenfügung; (Wagen-)Ausrüstung“ hatte, zu ἀραρίσκω, *h2er- „zusammenfügen“[9].
Ruijgh[10] geht von einer Ableitung von einem hypothetischen *arhmotās „homme qui s’occupe d’ajustements“ aus, die in der griechischen Sprache allerdings allein stünde: *ἁρμότης : ἁρμόζω ≠ ἱππότης „Reiter“ : ἱππεύω / ἱππάζομαι „reiten“, τοξότης „Bogenschütze“ : τοξεύω / τοξάζομαι „mit Bogen schießen“ (alle Homer +). δεσπότης „Herr“ : δεσπόζω „herrschen“ (nachhomerisch) ist dagegen eine oberflächliche Parallele; da es sich nicht um eine Ableitung auf -ότης handelt (< *déms pótis „Hausherr“), ist das Verb wahrscheinlich erst in historischer Zeit entstanden.[11] Darüber hinaus sind die Ableitungen auf -της von deverbativen Substantiven wahrscheinlich erst spät entstanden.[12]
4. ἀνάρμοστος ist - wenn wir auf das von mir aufgeworfene Lautgesetzt zurückgreifen - das erwartete Ergebnis von einem urgriechischen *n̥-Harmn̥t-tos[13]. Wir sehen, dass schon im Mykenischen zum Denominativum anarmostos ein Perfekt Partizipium ararmotmenos gebildet worden ist. Ob es noch bei dieser Form geblieben war, können wir nicht wissen. Im klassischen Griechisch liegt jedenfalls ein volles Paradigma vor. Es ist jedoch bezeichnend, dass die klassischen Dialekte unterschiedliche Imperfektivstämme gebildet haben: ἁρμόττω / ἁρμόσσω in der ionisch-attischen Prosa (erster Beleg ist IG 13.244 A.16 hαρμ]όττεσθαι, ca. 460 v.Chr.) und ἁρμόζω in den anderen Dialekten und in der Koine. In der archaischen Literatur ist der Aoriststamm außerdem häufiger als der Imperfektivstamm:
Il. 3.333 ἥρμοσε, 17.210 ἥρμοσε, 19.385 ἐφαρμόσσειε; Hesiod, Op. 76 ἐφήρμοσε; Alkman, Fr. 95b ἁρμόξατο; Solon, Fr. 36.16 ξυναρμόσας, 19 ἁρμόσας; Hipponax, Fr. 161 μεταρμόσας; Simonides, Epigr. 7.25.4 ἡρμόσατο, 7.431.4 ἁρμόσαμεν; Pindar, Ol. 3.5 ἐναρμόξαι, Pyth. 3.114 ἅρμοσαν, Nem. 7.98 ἁρμόσαις, 10.12 συνάρμοξεν, Isthm. 1.16 ἐναρμόξαι; Aischylos, Prom. 309 μεθάρμοσαι, Eum. 495 συναρμόσει ~ Od. 5.162 ἁρμόζεο; Thebais Fr. 4.2 ἐφαρμόζειν; Pindar, Pyth. 4.80 ἁρμόζοισα, 4.129 ἁρμόζοντα, 9.13 ἁρμόζοισα, 9.117 ἁρμόζων, Nem. 8.11 ἅρμοζον.
Außerhalb des Präsens ist der Aorist allerdings der natürliche Aspekt für ein Verb mit dieser Semantik.
Die Variante ἁρμόζω führt im Übrigen zu den historisch falschen Formen ἁρμόδιος „zusammenpassend“ und ἁρμογή „Zusammenfügung“. Das erstgenannte Wort beruht auf der einfachen Gleichung -όζω : -όδιος = -ίζε : -ίδιος. ἁρμογή, das wahrscheinlich in der westgriechischen Wissenschaftssprache entstanden ist, geht ohne Zweifel auf die dorische Gewohnheit zurück, einen Velar in die d-Stämme einzuschieben: IvO 16.4, 16.5 ποταρμόξαιτο (Olympia, 5. Jh.), SEG 22.336.1 ἁρμόχθεν (Olympia, 6. Jh.).
5. Die Frage ist, ob ein Denominativum wie *n̥-Harmn̥t-tos überhaupt denkbar ist. Es ist in der Tat das einzelne Beispiel für eine solche Ableitung von einem Nomen mit dem Suffix *-mn̥. Es gibt jedoch andere to-Adjektive, die direkt von einem Nomen ohne Bezug auf einen Verbalstamm abgeleitet worden sind, z.B. ἀγέραστος (: γέρας) „ehrlos“, ἀκήδεστος (: κῆδος) „unbesorgt“, ἀπύργωτος (: πύργος) „turmlos“.
Zu χάρις „Reiz, Gunst“ und θέμις „Recht“ werden ebenfalls die Adjektive ἀχάριστος „ohne Reiz“ (Od. 8.236; später durch ἀχάριτος, ἄχαρις ersetzt) und ἀθέμιστος „gesetzlos“ (Homer +; später durch ἀθέμιτος, ἄθεμις ersetzt) gebildet. χάρις, das zur Wurzel von χαίρω „sich freuen“ gehört (*ĝher-), hat als Simplex außerhalb von Nominativ und Akkusativ immer -t- vor der Endung: χάριτος, u.s.w. Wenn die i-Stämme einen sekundären Dental im Stammauslaut erhalten haben, handelt es sich aber in der Regel um -d- (ἐλπίδος, ἔριδος, ἴριδος, u.s.w.)[14]. θέμις ist schon problematischer: Die Prosa hat in der Regel θεμιδ- (Herodot 2.50.2 jedoch Θέμιος), Pindar θεμιτ- und das Epos und das Thessalische θεμιστ- (Homer 13x, Hesiod 4x, IG 9(2).1236, SEG 27.183, 37.491). Benveniste geht eben von einem Neutrum *thémi : *thémitos aus[15]. χάρις geht möglicherweise ebenfalls auf ein ursprüngliches *khari : *kháritos zurück. Ich will aber an dieser Stelle nicht mit diesem Problem ringen. Es reicht, dass wir es wahrscheinlich in beiden Fällen mit Stämmen zu tun haben, die auf -t- ausgingen.
Wir haben gegebenenfalls eine enge Parallele zum eigentlichen Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes: Ganz wie ἀνάρμοστος zu ἁρμόζω führte, mag ἀχάριστος der Ausgangspunkt für χαρίζομαι „Gunst erweisen“ gewesen sein, formal ein d-Stamm (im westgriechischen Raum wird der Dental regelmäßig durch einen Velar ersetzt: χαριξ- [Theokr. 5.71; kretisch IC 1.v.52.17, 1.xvi.1.16]). Das seltene Verb θεμίζω (Pindar, Pyth. 4.141 θεμισσαμένους und Hesych θεμιζέτω· μαστιγούτω, νομοθετείτω. Κρῆτες) mag ebenfalls auf ἀθέμιστος beruhen.
6. Der vorliegende Aufsatz behauptet keineswegs, alle Fragen zum Problemwort ἁρμόζω endgültig beantwortet zu haben. Es wurde nur eine denkbare, wenn nicht zwingende, Lösung skizziert, die auf folgenden zwei Thesen gründet:
- Dass der Ausgangspunkt das Denominativum *n-Harmnt-tos ist.
- Dass silbisches *n̥, *m̥ vor s lautgesetzlich zu o (statt a) wurde.
[1] A. Heubeck, “Zur dialektologischen Einordnung des Mykenischen”, Glotta 39 (1960/1) 159-172, bes. 169-170; E. Risch, “Les différences dialectales dans la mycénien”, in: Proceedings of the Cambridge Colloquium on Mycenaean Studies, Cambridge 1966, 150-157, bes. 157 [= Kleine Schriften, 458].
[2] Im Mykenischen (und im Arkadischen-Kyprischen und äolischen) wurde silbisches *n̥, *m̥ zu o auch in anderen Kontexten. Häufig nach Labialen, vgl. A. Bartonĕk, Handbuch des mykenischen Griechisch, Heidelberg 2003, 135. Die näheren Umstände sind aber nicht geklärt.
[3] *t’t’ = dorisch, ostionisch σσ, attisch ττ war offenbar nicht von dieser Regel betroffen, vgl. Fem. Part. dor. ἔασσα [dorische Kunstprosa neben ἔσσα], kret. ἰάτται [IC 4.72 VIII.47] < *h1sn̥tih2, att. Φερρέφαττα [Plat., Krat. 404d] < *-gwhn̥tih2. - θαυμάσιος (zu θαῦμα) ist vielleicht eine jüngere Ableitung von θαύμα(σ)τος.
[4] Vgl. den lakonischen Amtstitel ἁρμοστήρ in IG 5(1).937.2 (Kythera, 4. Jh. v.Chr.) und bei Xenophon, Hell. 4.8.39. In den attischen Quellen sonst gewöhnlich ἁρμοστής.
[5] E. Fraenkel, Griechische Denominativa in ihrer geschichtlichen Entwicklung und Verbreitung, Göttingen 1906, 6; E. Risch, Wortbildung der homerischen Sprache, Berlin / New York 21973, 290
[6] Für andere Verben auf -άζω von Neutra auf -μα, vgl. Fraenkel, a. a. O., 13.
[7] E. Schwyzer, “Griech. -άζω und got. -atja”, in: Mélanges linguistiques offerts à M. Holger Pedersen, Kopenhagen 1937, 65 Anm. 1: „Bei Homer sonst von ὀνομάζω nur Präsensformen, von ὀνομαίνω überhaupt Aoristformen ... Ist ὀνομαίνω als Präsens im Homertext durch -μάζω ersetzt?“
[8] M. Ventris / J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge 21973, 515. – Hierher wohl auch a-mo-te-re [KN X 770, Xe 6026] = /armos-tēr-/. Die Nomina a-mo-te-wo [PY Ea 421], a-mo-te-wi-ja [PY 235], a-mo-te-jo-na-de [PY 252] sind dagegen wahrscheinlich direkt von a-mo „Rad“ abgeleitet.
[9] Plutarch teilt mit, dass es noch im delphischen ein ἄρμα im Sinne von „Geschlechtsverkehr“ gab (Amat. 769a); es liegt mutmaßlich eine andere Spezialisierung des alten *h2er-mn̥ „Zusammenfügung“ vor.
[10] C.J. Ruijgh, “À propos de a-mo-te-jo-na-de”, in: A. Bartonĕk (Hrsg.), Studia Mycenaea. Proceedings of the Mycenaean Symposium Brno 1966, Brno 1968, 99-102.
[11] Der Ausgangspunkt ist vielleicht ein auf die Hymnensprache zurückgehender sigmatischer Stamm, vgl. H.Dem. 365 δεσπόσσεις πάντων ὁπόσα ζώει τε καὶ ἕρπει (der Aorist war jedoch, wegen der Semantik des Verbs, eher selten).
[12] E. Neitzel / E.-M. Voigt, s.v. ἁρμόζω, in: Lexikon des frühgriechischen Epos, Göttingen 1955-, I 1320.
[13] Oder *n̥-Harsmn̥t-tos, wenn man über die Aspiration Rechenschaft ablegen will. Es gibt allerdings zahlreiche Beispiele für spontane Behauchung: εὑρίσκω, ἴππος, ὅρος. Die mykenischen Wörter fangen übrigens alle mit a an (statt des dem klassischen ἁ- entsprechenden a2).
[14] Vgl. E. Schwyzer, Griechische Grammatik, I, München 1939, 464.
[15] E. Benveniste, Origines de la formation des noms en indo-européen, Paris 1935, 34. Auch H. Frisk, “Die Stammbildung von themis”, Eranos 48 (1950) 1-13 hält θέμιστ- für sekundär; er führt -στ- auf einen alten Superlativ zurück (θέμ-ιστ-ος > θεμ-ιστ-εύ-ω = ἄρ-ιστ-ος > ἀρ-ιστ-εύ-ω, aber auch (ἀ)θέμισ-τ-ος > θεμισ-τ-εύ-ω = πισ-τ-ός > πισ-τ-εύ-ω).
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