Das dorische τέτορες in der epischen Tradition
von George Hinge
1. Die Sprache des griechischen Epos gilt zunächst als ionisch mit einem gewissen Zuschuss des äolischen Nachbardialektes, wozu gewisse Forscher ein sogenanntes achäisches Substrat hinzufügen wollen. Der herkömmlichen Meinung nach weisen die homerischen Epen dagegen vom dorischen Dialekt keine Spuren auf, was mit der traditionellen Annahme gut übereinstimmt, dass der dorische Dialekt ein später Eindringling sei.
Nur Hesiods Variante der epischen Sprache richtete sich wegen des außerordentlichen Ansehens der homerischen Epen nach deren Idiom ein, soll aber gewisse westgriechische Züge bieten, die auf eine festländische, von der homerischen grundsätzlich unterschiedliche Tradition hinweisen sollen
Man hat darauf aufmerksam gemacht, wie die Formelmodifikation und die Spracherneuerung von Homer über Hesiod bis zu den Hymnen allmählich zunehmen.[1] Pavese hebt hervor, dass die zunehmende Modifikation nicht den Verfall des Epos, sondern eher seine Lebendigkeit bis in das 5. Jahrhundert bezeugt. Ein Teil der epischen Variation führt er aber auf zwei seit der mykenischen Epoche zwar parallele, aber immerhin unabhängige Dichtungstraditionen zurück.[2]
Hesiods festländische Sprachmerkmale sind aber m. E. zu wenig, um eine unabhängige Tradition beweisen zu können. Es handelt sich vielmehr um Umgestaltungen einer grundsätzlich einheitlichen, im kleinasiatischen Boden hervorgewachsenen Dichtersprache.[3] Die wenigen Dorismen sind deswegen eher als Formelmodifikationen (und Formelemanzipationen) zu betrachten, die zwar mit den westgriechischen Dialekten übereinstimmen und schließlich ihrem Vorbild folgten, aber nichtsdestoweniger aufgrund desselben Sprachsystems zu erklären sind, aus dem auch die homerischen Epen erschöpft worden sind.
Die meisten von Hesiods angeblich westgriechischen Spracherscheinungen sind in der Tat nicht besonders westgriechisch (so die 3. Plural ἦν, ἔδον, der Genitiv Plural auf ‑ᾶν, der Akkusativ Plural auf ‑ᾰς der 1. Deklination).[4] Eine Sonderstellung nimmt aber das Zahlwort τέτορες ein, das uns einmal bei Hesiod begegnet. Die Form ist ohne Zweifel dorisch, denn sie ist auf dorischem Boden sowohl literarisch (Epicharm Fr. 147.2 + .3 Kassel/Austin) als auch inschriftlich (z. B. mehrmals auf den herakleischen Tafeln) belegt. Von vornherein lässt sich ihr Dasein im Hesiodkorpus auf drei Weisen erklären:
Es hat sowohl eine besondere äolische als auch eine besondere dorische Dichtungstradition gegeben, deren Formeln gemäß der Art des Dialektes über kurz gemessenes πίσυρες bzw. τέτορες verfügten. Die dorische Tradition ist nachträglich bei Hesiod, die äolische aber zum Teil bei Homer einverleibt.
Das einheitliche Epos hat immer Formeln gekannt, in denen die erste Silbe des Zahlwortes τέσσαρες kurz gemessen wurde. Die tatsächliche Verwirklichung als πίσυρες bzw. τέτορες ist aber sekundär und schreibt sich auf das Vorbild der gegenwärtigen Nachbardialekte zurück.
Das ionisch etablierte Epos variiert die alten lang gemessenen Formen mit neuen kurzen Messungen, deren unterschiedliche Verwirklichungen aus gegenwärtigen Nachbardialekten entlehnt worden sind.
2. Schauen wir zuerst alle epischen Beispiele für das Zahlwort τέσσαρες und seine Varianten näher an, damit wir das Urteil auf festem Boden fällen können.
Am häufigsten steht τέσσαρες an erster Versstelle und gern im Enjambement zu lesen:
Il. 11.634 |
τέσσαρ᾿ ἔσαν, δοιαὶ δὲ πελειάδες ἀμφὶς ἕκαστον |
Il. 11.699 |
τέσσαρες ἀθλοφόροι ἵπποι αὐτοῖσιν ὄχεσφιν |
Il. 18.578 |
τέσσαρες, ἐννέα δέ σφι κύνες πόδας ἀργοὶ ἕποντο |
Od. 4.436 |
τέσσαρα φωκάων ἐκ πόντου δέρματ᾿ ἐνεῖκε |
Od. 9.335 |
τέσσαρες, αὐτὰρ ἐγὼ πεμπτὸς μετὰ τοῖσιν ἐλέγμην |
Od. 10.349 |
τέσσαρες, αἵ οἱ δῶμα κατὰ δρήστειραι ἔασι |
Od. 14.22 |
τέσσαρες, οὓς ἔθρεψε συβώτης ὄρχαμος ἀνδρῶν |
Od. 22.204 |
τέσσαρες, οἱ δ᾿ ἔντοσθε δόμων πολέες τε καὶ ἐσθλοί |
Od. 24.279 |
τέσσαρας εἰδαλίμας, ἃς ἤθελεν αὐτὸς ἑλέσθαι |
Od. 24.497 |
τέσσαρες ἀμφ᾿ Ὀδυσῆα, ἓξ δ᾿ υἱεῖς οἱ Δολίοιο |
H. Dem. 2.108 |
τέσσαρες, ὥστε θεαί, κουρήιον ἄνθος ἔχουσαι |
H. Herm. 4.195 |
τέσσαρες, ἠύτε φῶτες, ὁμόφρονες· οἳ μὲν ἔλειφθεν |
Gelegentlich füllt es jedoch den zweiten Fuß des Hexameters aus:
Il. 2.618 |
τῶν αὖ τέσσαρες ἀρχοὶ ἔσαν, δέκα δ᾿ ἀνδρὶ ἑκάστῳ |
Il. 5.271 |
τοὺς μὲν τέσσαρας αὐτὸς ἔχων ἀτίταλλ᾿ ἐπὶ φάτνῃ |
Il. 23.268 |
καλὸν τέσσαρα μέτρα κεχανδότα λευκὸν ἔτ᾿ αὔτως |
Od. 22.110 |
ἔνθεν τέσσαρα μὲν σάκε᾿ εἵλετο δούρατα δ᾿ ὀκτώ |
In Zusammensetzungen jedoch entweder den zweiten oder den fünften Fuß:
Il. 2.524 = 2.534 = 2.545 = 2.630 = 2.644 = 2.710 = 2.737 = 2.747 = 2.759 |
τοῖς δ᾿ ἅμα τεσσαράκοντα μέλαιναι νῆες ἔποντο |
Od. 24.341 |
συκέας τεσσαράκοντ᾿· ὀρχοὺς δέ μοι ὧδ᾿ ὀνόμηνας |
Hes. Op. 385 |
αἱ δή τοι νύκτας τε καὶ ἤματα τεσσαράκοντα |
Hes. Op. 441 |
τοῖς δ᾿ ἅμα τεσσαρακονταετὴς αἰζηὸς ἕποιτο |
Il. 23.705 |
πολλὰ δ᾿ ἐπίστατο ἔργα, τίον δέ ἑ τεσσαράβοιον |
Die alternative Form πίσυρες, die man wegen der Entwicklung des anlautenden Labiovelars normalerweise als einen Äolismus beschreibt, ist dagegen flexibler und steht im ersten, zweiten, dritten und vierten Fuß des Hexameters:
Il. 15.680 |
ὅς τ᾿ ἐπεὶ ἐκ πόλεων πίσυρας συναείρεται ἵππους |
Il. 23.171 |
πρὸς λέχεα κλίνων· πίσυρας δ᾿ ἐριαύχενας ἵππους |
Il. 24.233 |
ἐκ δὲ δύ᾿ αἴθωνας τρίποδας, πίσυρας δὲ λέβητας |
Od. 5.70 |
κρῆναι δ᾿ ἐξείης πίσυρες ῥέον ὕδατι λεύκωι |
Od. 16.249 |
ἐκ δὲ Σάμης πίσυρές τε καὶ εἴκοσι φῶτες ἔασιν |
Od. 22.111 |
καὶ πίσυρας κυνέας χαλκήρεας ἱπποδασείας |
Was die Versstelle betrifft, ist das westgriechische τέτορ᾿ bei Hesiod nicht weniger flexibel:
Hes. Op. 698 |
ἡ δὲ γυνὴ τέτορ᾿ ἡβώοι, πέμπτῳ δὲ γαμοῖτο |
Darüber hinaus wird die kurze Variante in Pseudo-Hesiods Frauenkatalog ergänzt:
Hes. Fr. 17(a).17 |
[ἦν τέτορες, κ]εφαλαὶ δὲ δύω ἰδὲ χεῖρες εεισ[..]ν |
Das angeführte Material, das sämtliche Beispiele des überlieferten literarischen Epos für das Zahlwort τέσσαρες enthalten soll, zeigt, dass in der epischen Dichtung nur die lange Variante einheimisch ist. Wenn es in der Tat äolische und dorische Dichtungen gäbe, in denen die kurzen Formen integriert waren, haben sich Homer und Herodot nicht darauf berufen, sondern am besten die kurze Messung als eine nützliche Variante entlehnt.
Die Entlehnung hat sich aber vielmehr auf die gegenwärtigen Dialekte bezogen, die über diese Formen verfügten. Die kurze Form ist nur im Dativ und Genitiv ursprünglich: [5] < *tetur-sú, *tetur-ōm. Die kurzen Formen bei Homer und Hesiod sind aber alle im Nominativ oder Akkusativ, was gegen die Tradition und für die Entlehnung spricht.
3. Eine von Phokylides’ sog. Gnomen fängt mit folgendem Vers an (Fr. 2 Gentili/Prato):
Καὶ τόδε Φωκυλίδεω· τετόρων ἀπὸ τῶνδ᾿ ἐγένοντο
Phokylides, der in Milet des 6. Jahrhunderts wirkte, schreibt in einem ausgesprochen episch-ionischen Dialekt und weist sonst keine westgriechischen Züge auf (η für ᾱ auch nach ρ; ευ für εο; Vereinfachung des Sibilanten in μέσος; Gen. der 1. Dekl. ‑εω, ‑έων als eine Silbe skandiert; Pron. ἅσσα; Inf. εἶναι / ἔμμεναι; Konj. ὅταν). Hat sich hier hesiodeischer Einfluss behauptet (etwa eine episch-didaktische Kunstsprache), oder hat die dorische Form in der nachhomerischen Dichtung allgemeine Gültigkeit als die kurze Variante über das äolische πίσυρες gewonnen?
In der byzantinischen sog. Palatinischen Anthologie steht unter Simonides’ Namen folgendes Epigramm aufgeführt (AP 7.248).
Μυριάσιν ποτὲ τῇδε τριηκοσίαις ἐμάχοντο
ἐκ Πελοποννάσου χιλιάδες τέτορες
Da Simonides auch kein Dorier ist, hätten wir mit diesem Distichon ein gutes Beispiel für die allgemeine Verwendung von τέτορες in der nachhomerischen Dichtung. Herodot, der das Epigramm zusammen mit zwei anderen Epigrammen anführt, die nach der Schlacht in Thermopylä aufgestellt wurden, sagt aber explizit (7.228):
ἐπιγράμμασι μέν νυν καὶ στήλῃσι, ἔξω ἢ τὸ τοῦ μάντιος ἐπίγραμμα, Ἀμφικτύονες εἰσὶ σφέας οἱ ἐπικοσμήσαντες· τὸ δὲ τοῦ μάντιος Μεγιστίεω Σιμωνίδης ὁ Λεωπρέπεος ἐστὶ κατὰ ξεινίην ὁ ἐπιγράψας
„Mit diesen Epigrammen und Stelen, außer des Epigramms des Sehers, haben die Amphiktyonen über sie gestellt. Das Epigramm des Sehers Megisties hat Simonides der Sohn des Leoprepes der Gastfreundschaft wegen gedichtet.“
Unser Epigramm (das nicht dasjenige für Magisties ist) lässt sich also nicht Simonides zuschreiben.[6] Dass die Handschriften des Ioniers Herodot das Epigramm in teilweise ionischer Gestalt wiedergibt, sagt nichts über das ursprüngliche Aussehen des eingeschriebenen Textes aus. Im Gegenteil hätte man erwarten sollen, dass die Sprache in allen Details ionisch gewesen wäre, und es ebenfalls (wie in mehreren Handschriften) Πελοποννήσου stünde.[7] Die Frage ist, ob die Form τέτορες auf die Ethnizität des anonymen Schreibers der verlorenen Inschrift zurückzuführen ist. Oder aber ob sie entweder selbstständig von Herodot in den Text eingeführt worden ist oder wenigstens der allgemeinen Normalisierung des Dialektes entging, eben weil die Form schon nicht mehr für dialektgeprägt gehalten wurde.
4. Ich bin in dieser Untersuchung zwar zu keinem endgültigen Ergebnis gelangt. Wenn ich mich aber nicht täusche, scheint die kurze Messung, die bald als πίσυρες, bald als τέτορες erscheint, der Peripherie des Formelsystems zuzugehören. Wir müssen uns also nicht auf irgendeine bis auf ein paar augenfällige Einzelheiten verschollene westgriechische Dichtersprache berufen.
In der überlieferten archaisch-klassischen Literatur beschränkt sich die „äolische“ Variante πίσυρες auf die homerischen Epen, während die übrige Hexameterdichtung sich stets für die in den Augen des Durchschnittsgriechen wohl weniger seltsamen „dorische“ Variante τέτορες entscheidet, wenn sie eine kurze Messung der ersten Silbe braucht.
[1] A. Hoekstra, The Sub-Epic Stage of the Oral Tradition, Amsterdam 1969; R. Janko, Homer, Hesiod and the Hymns: Diachronic Development in Epic Tradition. Cambridge 1982.
[2] C. O. Pavese, Tradizioni e generi poetici della grecia arcaica, Roma 1972.
[3] Diese Dichtersprache habe ich auch in meiner noch nicht veröffentlichten Doktorarbeit Die Sprache Alkmans: Textgeschichte und Sprachgeschichte, Århus 2001, für die archaische Melik belegen wollen.
[4] Vgl. A. Morpurgo Davies, ‘Doric’ features in the language of Hesiod, Glotta 42 (1964) 138-165; J. L. García Ramón, En torno a los elementos dialctales en Hesíodo, Cuadernos de Filología Clásica 11 (1976) 523-543.
[5] Vgl. A. Lillo, The Dorian numeral τέτορες, Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 49 (1988) 71-73. Der dorische o-Vokalismus (statt des erwarteten u wie in πίσυρες) ist auf den Nominativ zuruckzufuhren: *tetwóres.
[6] D. L. Page, Further Greek Epigrams, Cambridge 1981, 231-234.
[7] τριηκοσίῃσ᾿ wäre dagegen nicht so zwingend, weil Herodot sowieso nicht die elidierte Form kennt, und Homer sowohl ‑αις als ‑ῃς bietet (vor Konsonanten/im Versschluss bzw. vor Vokalen). Bei Aristeides, der ebenfalls das Epigramm anführt (II 512 Dindorff), hat die Überlieferung Πελοποννήσου und τριηκοσίῃς.
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